Amtsgericht Neunkirchen, Beschluss vom 08.05.2017 – 19 OWi 531/15
Gegen den Mandanten, einen Berufskraftfahrer, ist ein Bußgeldbescheid ergangen: Er soll am 10.06.2015 auf einer Autobahn 20 km/h zu schnell gewesen sein. Bei einem Lkw bedeutet das eine Geldbuße von 70 Euro, woraus auch ein Punkt folgt. Gegen diesen Bußgeldbescheid ist durch uns Einspruch eingelegt und bei der Bußgeldstelle beantragt worden, uns die digitalen Daten aller an diesem Tag stattgefundenen Messungen zu überlassen, um diese von der GFU Gesellschaft für Unfall- und Schadenforschung untersuchen zu lassen. Das ist notwendig, da so mögliche Defekte oder sonstige Probleme an dem Geschwindigkeitsmessgerät herausgefunden werden können. Denn in Bußgeldverfahren gilt eine Vermutung, wonach die Messergebnisse grundsätzlich richtig sind und der Verteidiger konkret Fehler des Messgeräts aufzeigen muss, wenn er das Geschwindigkeitsergebnis in Frage stellen will.
Die Notwendigkeit der Einsichtnahme in diese Daten hat das hier zuständige Amtsgericht Neunkirchen erkannt und, da die Daten bis zur ersten Gerichtsverhandlung am 26.02.2016 von der Behörde nicht zur Verfügung gestellt worden sind, entschieden, das Verfahren bis zu einem neuen Termin auszusetzen und der Bußgeldstelle aufgegeben, uns die Daten unverzüglich zur Verfügung zu stellen.
Das hat in der Folgezeit jedoch nicht richtig funktioniert: Die uns überlassenen Daten waren entweder unvollständig oder verschlüsselt. Daher hat das Gericht einen neuen Termin am 04.07.2016, an dem wieder eine Verhandlung stattfinden sollte, aufgehoben. Am 05.09.2016 und 27.10.2016 ergingen neue und ausführlich begründete Gerichtsbeschlüsse, wonach die Bußgeldstelle die unverschlüsselten Daten sowie die Wartungsunterlagen des Messgeräts herauszugeben hat. Da ein neuer Verhandlungstermin am 11.11.2016 stattfinden sollte, in der kurzen Zeit die Daten aber nicht zu beschaffen waren, wurde auch dieser Termin vom Gericht wieder aufgehoben.
Weitere Verhandlungstermine am 11.11.2016 und 09.01.2017 konnten ebenfalls nicht stattfinden. Die CDs mit den Messdaten gingen in unserem Büro im Januar erst so spät ein, dass das Gericht zu diesem Zeitpunkt den Termin am 09.01.2017 schon wieder aufgehoben hatte. Nach Auswertung der Daten teilten uns die Sachverständigen der GFU dann mit, dass eine falsche Messstatistik (von einem anderen Messtag) von der Behörde herausgegeben wurde. Ohne die passende Statistikdatei könne aber nicht sicher gesagt werden, ob das Messgerät richtig funktioniert und korrekte Geschwindigkeitswerte geliefert hat.
Eine Nachfrage der Bußgeldstelle bei der Polizei, die die Messung durchgeführt hatte, ergab dann, dass nicht nachvollzogen werden könne, wie es zu der Versendung der falschen Daten kam. Zu der hier interessierenden Messreihe liege der Polizei überhaupt keine Statistikdatei vor. Diese sei aber ohnehin nicht unbedingt notwendig, auf die Richtigkeit der Messungen habe die fehlende Datei keinen Einfluss. Die Statistikfunktion sei bei dem Messgerät auch „nicht immer verfügbar“.
Der letzte Gerichtstermin in dieser Sache fand dann am 08.05.2017 statt, also beinahe zwei Jahre nach dem angeblichen Verstoß; gut einen Monat später wäre dieser verjährt gewesen. Die Angaben der Polizei konnten mittels einer Stellungnahme der GFU widerlegt werden. In dieser heißt es, dass das verwendete Messgerät ESO ES 3.0 nach Abschluss eines jeden Messeinsatzes eine Statistikdatei erzeugt. In der Stellungnahme wurde auch nochmals erklärt, dass und wofür die Datei gebraucht wird, um eine verlässliche Aussage zur Richtigkeit des Geschwindigkeitswerts zu treffen.
Dass die Datei nicht mehr existiert, kann nur zwei Ursachen haben: Entweder haben die Messbeamten diese nach der Messung nicht richtig abgespeichert oder sie wurde nachträglich gelöscht, was bis zum rechtskräftigen Abschluss aller Bußgeldverfahren wegen Messungen an Tattag natürlich nicht hätte geschehen dürfen. Es konnte durch uns also nicht mehr die mögliche Fehlerhaftigkeit der Messung nachgewiesen werden. Diese Problematik, die durchaus mit Fällen der sogenannten Beweisvereitelung in Zivilverfahren verglichen werden kann, sah auch das Gericht und stellte das Verfahren – ohne Folgen für den Mandanten – ein.