Notfälle bei Tieren wurden in der Vergangenheit häufig nicht als mildernder Umstand bei Verkehrsverstößen anerkannt. Oft wird als Begründung angegeben, dass die Gefahr für ein Tier und das Bedürfnis, möglichst schnell zu einem Tierarzt zu fahren, keinen Grund darstelle, andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden. Dass es allerdings stark auf den Einzelfall ankommt, zeigt dieser Fall hier.
Der Hund des Mandanten erlitt am Weihnachtsfeiertag einen schweren eplileptischen Anfall. Der Mandant ging davon aus, dass der Hund starke Schmerzen hatte und fuhr mit ihm sofort in die Tierklinik. Auf der Autobahn wurde das Fahrzeug des Mandanten mit 129 km/h gemessen, obwohl dort eine Beschränkung auf 100 km/h galt. Die zuständige Behörde verhängte ein Bußgeld von 80 Euro; zudem sollte ein Punkt eingetragen werden und wurde für den Wiederholungsfall ein Fahrverbot angedroht.
Im Einspruchsverfahren beim Amtsgericht St. Ingbert wurde der Sachverhalt zunächst schriftlich geschildert. Dem Gericht wurden von unserer Seite aus auch die Behandlungsunterlagen vorgelegt, aus denen der konkrete Notfall hervorging. Da sich der Vorfall abends an einem Feiertag ereignete, konnte argumentiert werden, dass auf Grund der geringen Verkehrsdichte niemand gefährdet wurde. Im Ergebnis ging das Gericht davon aus, dass der Mandant zwar auf Grund des "tierischen Notfalls" dennoch nicht die Geschwindigkeit überschreiten durfte. Allerdings erachtete es die Ahndung im Bußgeldbescheid für unverhältnismäßig. Das Bußgeld wurde auf 55 Euro reduziert, wodurch auch der Punkt in Flensburg wegfällt.
Während Missachtungen von Verkehrsregeln zur Rettung von Menschen im Einzelfall einen sog. rechtfertigenden Notstand darstellen können und dann nicht widerrechtlich sind, wird dies bei Tieren meist nicht angenommen, da die Verkehrssicherheit dem Tierwohl vorgehe. Möglich ist bei entsprechender Argumentation jedoch, das Bußgeld bzw. Punkte für eine Geschwindigkeitsüberschreitung zur Rettung eines Tieres zu reduzieren oder ein Fahrverbot zu vermeiden. Man spricht hier von einer notstandsähnlichen Situation, die den Verstoß selbst nicht entfallen lässt, jedoch einen besonderen, für den Autofahrer mildernden Umstand darstellt. Zudem kann die Behörde oder das Gericht nach eigenem Ermessen, gerade bei weniger hohen Überschreitungen, das Verfahren komplett einstellen.
Amtsgericht St. Ingbert, Urteil vom 16.09.2021 - 25 OWi 62 Js 690/21 (1495/21)
§ 16 Ordnungswidrigkeitengesetz
Rechtfertigender Notstand
Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Handlung begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Handlung ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.
Zeichnung: Michael Rupp-Dahlem, Berlin
Ich finde die Entscheidung des Gerichts eine menschliche Entscheidung.
Klar ist, die Verhältnismäßigkeit muss gewahrt bleiben.
Rechtlich betrachtet ist ein Hund meines Wissens nach „nur eine Sache/Gegenstand“, man verzeihe eine falsche Ansicht.
Aber für jeden Tierhalter ist es weitaus mehr. Hund/Katze usw sind „Familienmitglieder“ und werden entsprechend geachtet.
Ein Dankeschön an den Richter für ein solches, respektvolles Urteil!
Schön, dass das Bußgeld auf 55 Euro reduziert wurde, meines Erachtens hat der Mandant aber nichts falsch gemacht. Ich würde für meinen Hund ebenfalls das Tempolimit überschreiten. Allerdings habe ich kürzlich erfahren, dass es auch den tierärztlichen Notdienst gibt. Vielleicht ist dieser auch eine gute Alternative.
Verrückt, dass der Besuch beim Tierarzt nicht gemildert wurde, wenn es Bußgeld gab. Zum Glück wurde das geändert. Bei Notfällen sollte man definitiv eine Ausnahme machen.